Der Filmklassiker von Carol Reed aus dem Jahr 1949 zeigtWien als kulturellen Schmelztiegel am Scheideweg zwischen Verfall undNeuanfang. Absonderliche Schattenwürfe und unruhige Kameraeinstellungen formenaus der Stadt ein Labyrinth, in dem sich die Figuren verlieren. "Der dritte Mann" mischt Elemente aus Film noir, Trümmerfilm und schwarzer Komödie und bewegt sich zwischen Hollywood und deutschen Expressionismus.
Auch 75 Jahre nach der Premiere von "Der dritte Mann" ist es nicht schwer, die Spuren des „Dritten Mannes“ im Wien der Gegenwart zu finden.Die Trümmer der Nachkriegszeit wurden zwar weggeräumt, aber geführteStadtspaziergänge können Filminteressierten noch genug Häuser, Gassen undPlätze zeigen, die im Film zu sehen sind. Einige machen sogar einen Abstecherin die Wiener Kanalisation, in der sich das große Finale abspielt. Ein kleinesPrivatmuseum hat sich komplett dem „Dritten Mann“ verschrieben, und dasBurgkino zeigt den Film seit beinahe zwei Dekaden mehrmals die Woche. Hier unddort spielen Musikanten an Straßenecken und in Kaffeehäusern die berühmteFilmmusik von Anton Karas nach.
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- Noch mehr Filmklassiker
Es ist fast ironisch, dass einenglischer Film, in dessen Mittelpunkt zwei Amerikaner und eine Tschechin stehen,die österreichische Hauptstadt im Kino unsterblich gemacht hat. DieserWirbelwind aus kulturellen Einflüssen, der die Figuren und den Schauplatzseltsam entzweit, bildet die perfekte Grundlage für einen Filmklassiker, dermit tänzerischer Leichtigkeit ein Spiegelkabinett erschafft, in dem die Grenzenzwischen Nationalitäten so fließend sind wie die der Moral.
WildeWestern waren gestern
Im Zentrum der Geschichte steht dermäßig erfolgreiche Western-Autor Holly Martins (Joseph Cotten),der seinen Schulfreund Harry Lime (Orson Welles) nach dem Kriegin Wien besuchen möchte und eine böse Überraschung erlebt: Harry ist tot. Waswie ein Unfall aussah, entwickelt sich in Hollys Augen immer mehr zu einerVerschwörung. Zu viele Ungereimtheiten, zu viele Zufälle und der mysteriöse„Dritte Mann“, der laut des Hausmeisters am Tatort anwesend war. Holly begibtsich in die Unterwelt eines geteilten Wiens und trifft auf Kriminelle,Staatsschützer und Harrys Geliebte, die Schauspielerin Anna (Alida Valli).
Ein großes Ensemble mit vielen Verdächtigen und zwielichtigen Gestalten ist fürdas Noir-Genre üblich, doch Regisseur Carol Reed undDrehbuchautor Graham Greene greifen bereits in dieser Figurenkonstellationdiverse Themen auf, die im Laufe der Erzählung an Gewicht gewinnen werden. Dieinternationalen Charaktere skizzieren das Leben in einer unruhigen Stadt, dievon Einheimischen, Geflüchteten und Besatzungsmächten gleichermaßen besetzt wird.Die Fremden im fremden Land dominieren das Bild, und die Österreicher werden zuStatisten in der eigenen Heimat. Trotzdem haben gerade die Einheimischen, inihren kurzen Auftritten, häufig die denkwürdigsten Momente. Dass es einendritten Mann überhaupt gibt, weiß zunächst nur das Wiener Hausmeisterehepaar,das im wunderbaren Denglisch erklärt: „He came later, after they carried him tothe Josef statue.” Und als die amerikanischen Ordnungshüter eine Wohnungdurchsuchen, lamentiert die Vermieterin auf Deutsch: „Die Befreiung hab’ ichmir ganz anders vorgestellt!“
Holly selbst hat sich die Reise nachWien ebenfalls ganz anders vorgestellt. In seinen Groschenromanen ist die Weltvöllig klar: Die Guten sind gut und die Bösen sind böse, und das bleibt auchso, bis der Held am Ende alle Schurken abgeschossen hat und mit der befreitenFrau in den Sonnenuntergang reitet. An dieser Stelle blickt der Film in einenselbstreferenziellen Spiegel, denn auch in der Realität war der ZweiteWeltkrieg die Zeit, in der der klassische Western langsam an Popularität verlorund der Film noir an Popularität gewann.
Eine Filmströmung, die maßgeblich vondeutschen Filmschaffenden im Hollywood-Exil geprägt wurde, die auf der Fluchtvor dem Nationalsozialismus ihre filmischen Einflüsse in die USA mitbrachten. Gutgegen böse mit viel Action wurde langsam ersetzt durch Geschichten vollerUnsicherheit, Zweifel und Tragik. So muss auch Holly erkennen, dass in diesemSchwarz-weiß-Film die Wahrheit sich meistens in Grauzonen versteckt.
Kriegsverbrechermit Kuckucksuhren
Carol Reed schafft es, sich nichtvollständig in den dunklen Gefilden des Nachkriegs-Zwielichts zu verlieren.Ganz im Gegenteil: Im Abgesang an die alte, klare Weltordnung, steckt immerwieder auch eine augenzwinkernde Hommage an diese simpleren Zeiten. In einerdenkwürdigen Szene, in der Holly versehentlich eine Ansprache vor einemLiteraturclub halten muss, prallen die Vorstellungen über Kunst und Realitätzuerst komödiantisch aufeinander, bevor sich der Film zu einem Thrillerentwickelt, in dem es um Leben und Tod geht.
„Der dritte Mann“ schafft es überseine komplette Laufzweit hinweg, Lacher und Seufzer miteinanderauszubalancieren. Der Film beginnt damit, dass eine Erzählstimme über den florierendenSchwarzmarkt berichtet und bei der Erwähnung von „Amateuren“ zu einer Leiche inder Donau schneidet. Er endet mit der berühmten Szene, in der ein in die Längegezogener Moment voller Tragik so pointiert inszeniert wird, dass der Abspannfast unweigerlich mit einem kurzen Lacher beginnt.
Der König dieses Zusammenspiels zwischenKomik und Tragik ist jedoch Orson Welles. Der Film ist sichdessen komplett bewusst, indem er den großen Schurken mit einem schelmischenLächeln auftreten lässt. Welles schwebt süffisant durch seine Szenen undscheint immer ein Augenzwinkern parat zu haben. Den Höhepunkt erreicht diese Darbietungbei der berühmten Kuckucksuhr-Ansprache, in der er mit einer pfiffigen AnekdoteJahrhunderte der Unmenschlichkeit weglacht. Welles verübt seine schrecklichenVerbrechen derart charmant, dass man sich häufig zu ihm hingezogen fühlt – ehe dieRealität mit voller Härte zurückkehrt.
Genau diesen Drahtseilakt zwischen Amüsementund Schrecken, der spielerische Walzer zwischen der bleiernen Schwere derNachkriegszeit und dem leichten Eskapismus Hollywoods, beherrscht der Film wiewenig andere Zeitgenossen. Eine einzigartige Stimmung, so zerrissen wie dieStadt, in der der Film spielt.
ZeitloserZeitgeist im Riesenrad
Reeds Ausflug nach Wien isteine wunderbare Verbindung aus Zeitzeugnis und Film für die Ewigkeit, der beijeder Sichtung eine neue Facette entblättert. Die stimmungsvollen Einstellungenseiner schrägen Kamera heben die Welt aus den Angeln, die Schattenspiele in denengen Kopfsteingassen machen aus der Metropole ein Labyrinth, in dem sich dieFiguren wortwörtlich und metaphorisch verlieren. Er wirft einen Blick auf ein zerstörtesWien und bastelt sich aus den Trümmern eine Geschichte, die ebenso unterhaltsamwie doppelbödig ist und dessen Themen nichts an ihrer Aktualität eingebüßthaben. Wie moralisch handeln Menschen, wenn sie vom Leid anderer profitierenkönnten? Insbesondere, wenn diese anderen nur gesichtslose Massen in weiterFerne sind?
Doch neben den großen moralischenFragen wirken die kleinen nicht weniger interessant. In einer Welt, in der regelmäßigneue Skandale über Prominente ans Licht kommen, die für viele Leute als Idolegalten, wirkt ein Zitat von Anna streitbarer denn je: „A person doesn’t changejust because you find out more.“ Ob man einen Menschen und dessen Leben undWerk weiterhin bewundern kann, selbst wenn man von dessen finstersten Tatenerfährt, ist eine Frage, die Holly und Anna zum Ende des Filmes für sich selbstbeantworten, aber die das Publikum mit sich aus dem Kinosaal tragen muss – biszur nächsten Sichtung, bis man erneut in das Riesenrad des Praters steigt, bissich die Welt auf den Kopf dreht.
Diskografische Hinweise
„Der dritte Mann“ ist beim Label StudioCanalin einer neuen Edition zum 75-jährigen Jubiläum auf Blu-ray und UHD erhältlich.Die Bildspur basiert auf der Restaurierung des Jahres 2015, die alles aus demQuellmaterial herausholt. Bildfehler älterer Abtastungen wurden beseitigt, dochdas Filmkorn in angemessenem Maße beibehalten. Das umfangreiche Bonusmaterialder vorherigen Blu-ray-Veröffentlichung, das alternative Szenen, diverseFeaturettes und einiges mehr umfasste, wurde um ein neues Audio-Interviewerweitert. Ein Highlight der neuen Edition ist der schöne Schuber mit demPrater-Motiv und das beigelegte Booklet, voller interessanter Essays überunterschiedliche Aspekte des Films.